To Beatrice de Waard (Without date)

From Karl Polanyi
Jump to navigation Jump to search


Deutscher Text zum Nachlesen

[14] from 423 W 120, batch marked “MSS., live”

Transcript from handwritten carbon, on which pencilled additions and deletions are marked in /…/ 13 small pages, green carbon paper.

/Lieber Mme Bé/
Lieber Herr Oberleutnant,

es gibt Gedankenreihen für mich bei denen Sie stats wie mitbeteiligt sind und über die ich Rechenschaft schuldig bin. So zum Beispiel kamen mir über die Beschaffenheit des Lebens und also über die Beschaffenheit des Dramas ganz einfache Gedanken die mir neu, dennoch aber grundlegend erscheinen. Es sind Simplizitäten, wie das Folgende:

I. Einige bekannte Eigenschafen des Lebens: Lebt man nicht schlechterdings so dahin wie das Tier und die Menge, so bedarf das Leben einer Kraftanstrengung. Diese Lebensanstrengung ist immer eine Wahl, Wahl des Zieles, also auch wohl der Mittel; Wertsetzung überhaupt und Entwertung überhaupt. Die Lebensanstrengung bedingt also einen Lebensinhalt und der Zustand in den alles Überige unerwählte dadurch gerät, erscheint als die Lebensform /des Handelnden/.

Diese Form nun hat aber eigene Gesetzte, d.i. eigene Zusammenhänge und Folgen. Um unser Lebensziel zu treffen, müssen wir ein Teil des Lebens für uns zu harten aber elastischen Bogen entseelen und einen anderen von uns selbst lostrennend als Pfeil ansetzen… So entstehen die eigenen Elastizitätsgesetze des Gemütes im Lebenskampf, und eine eigene Technologie dieser ad hoc Mechanik. So lange nicht das Ganze aufgegeben wird, bestehen hiermit /hier/ eigene innere Notwendigkeiten, eine Notgesetzgebung der Seele.

Das alles sind Beobachtungen der Alltagspsychologie.

Das Leben hat aber auch noch die tückische Eigenschaft, flüchtig und ungelen zu sein, es entzieht uns plötzlich unser Ziel und wir tragen /dann/ die Folgen der Form die wir uns erschaffen haben.


II. Dies alles hängt eng mit der Beschaffenheit des Dramas, insbesondere mit der der Tragödie zusammen.

Im Drama wird nichts anderes behandelt, als die Lebensanstrengung das Leben zu leben und die inneren Gesetzmässigkeiten dieser Anstrengung die uns unsere Schicksale bereiten. Das ganz reale Substrat dieser Fragen findet sich aber [15] schon in der obigen Darstellung der einfachen Lebensanstrengung begriffen.

Der Unterschied zwischen dem alltagspsychologischen Problem der Eudaimonie und dem Glücksproblem des Dramas ist bloss der, dass das “Glück“ dort bloss als simpler Endzustand erscheint und sich im Sätze “niemand schätze sich vo seinem Tode glücklich,” äussert - hingegen im Drama ein sittliches Moment an dessen Stelle tritt Sittliches Glück ist nur vorhanden, wenn die erste Hauptwahl aufrecht bleibt. Denn der sittliche Wert des Individuums liegt in dem Dienst er der Menschheit dadurch leistet, dass er in das sinnlos-formlose der Lebensmassen das sinnvoll-formvolle der autonomen Wertsetzung hineinträgt. Der Held ist ein Schöpfer, der durch seine Leidenschaft seine Idee oder sein Schicksal befähigt ist, Eines zum Wert zu erheben, die übrige Welt aber sozusagen zu entschöpfen. - Das Drama behandelt diese bedeutsame Art des Lebens ohne aber das Substrat, das Leben schlechthin, aus den Augen zu verlieren zu verfassen.

Das Drama ist die bedeutsame Darstellung der sittlichen Lebensanstrengung. Bedeutsam, weil sie, wie alle Kunst, ein Gleichnis ist. Sittlich wird sie dadurch, dass der Held schöpferisch auftritt, die Wertgesetze selbst erlässt, und sich selbst mit den Schicksalen dieser Wertsetzung identifiziert. Er kleidet sich in seine Gottesähnlichkeit und schafft durch ein Machtwort oft aus den reichsten Gefilden des kleinen Lebens einen blossen Hintergrund für seine Heldenkämpfe. Er hat sich die Sterne zum Ruhepunkt seines Blickes, den Glanz der Jahrhunderte zur Leuchte und das Grab von Zehntausenden zum Ruhebett erwählt. Zur Tragödie wird diese Erscheinung, verliert die Auswahl ihren Sinn. Braucht das Vaterland den Helden nicht mehr, war sein Weib ihm dennoch trau Othello, das Ideal des Opfers nicht wert etc.

Das Tragische hierbei ist immer wieder dasselbe: Der Untergang ist stets Folge der Form, die der Held, um seine Zwecke zu erreichen, seinem Leben aufzwingen musste. Oft ist diese Form auch ein Entgegenstehen der Menschheit gegenüber, eine Sich-abtrennen von ihnen. Dies aber von ihnen: Dies aber nur das Ausserliche. Das Wesentliche: dass, alles was zu blossen Formen gemacht wurde, selbst Glück war: das häusliche, das kleine, das selbstgenügsame Glück. Und diese Form dieses Glück wird stets zum Opfer gebracht. Darum ist ein tragischer Tod in Pflichterfüllung (Unbeugsamkeit, etc.) übriggeblieben war.

[16] Ein tragischer Tod überhaupt, wenn der Lebensinhalt widerlegt oder verflüchtigt ist, und der Untergang die Folge jener Kraft ist mit der ene Inhalte gefasst und bewegt worden waren.


III. In der Tragödie ist der Untergang wirklich unverschuldet und notwendig, zugleich. Er muss notwendige Folge des tragischen Willens sein, dennoch aber unverschuldet, indem der Wille nicht auf die Alltagsmoral notwendig und unverschuldet einender ausschliessende Bestimmungen: notwendige Folgen unserer Handlung stellen sich sittlich als verschuldete dar. Dies ist ja der Sinn der sittlichen Verantwortung. - Aber nur für das sittliche Leben auf niederer Stufe, für das formlose und unbedeutende Leben ist dieses wahr. Soll das Leben selbst Wert erhalten so müssen seine Inhalte aus menschlicher Willkür einender entgegengestellt werden; soll das Leben mit Kraftentfaltung gelebt werden, so muss das eine zum Ziele erhoben, das andere zum Mittel herabgesetzt werden; Soll das Leben zum Werk gestaltet werden, muss das eine, um Inhalt gekernt werden alles andere zu einhüllenden Form verblassen. Auf dieser Höhe zeigt erst das Leben seinen tragischen Charakter.

Die Wertsetzung, die Wahl, das Schöpferische geben erst dem Leben seinen Sinn, und heben den Menschen zum Helden empor. Aber die Folgen dieser Wahl, sie sind notwendige, die Gesetze der Wertskala, sie begründen sich in sich selbst, die Schöpfungskosten, sie sind unvermeidliche: Der Held hat Lebenswerte geopfert, vernichtet, um andere wieder in Vollheit und Gänze für sich erstehen zu lassen. Unverschuldet sind diese Folgen, denn nicht auf diese war die Absicht gerichtet, für den wertsetzenden Willen ersten sie wir zufällig, aus den technischen Zusammenhang des Lebens. Aber notwendige sind sie doch, denn wer erwählt, hat auch verworfen. Die Tragödie liegt also in der Wahl selbst begründet, die das Leben erst zur Bedeutung erhebt, die aber auch Leben vernichtet, das Erwählte neuschöpft, das Unerwählte aber ent-schöpfeft. Den kritischen Punkt des Lebenslaufes der diese Wahl in sich begreift ist es die man “tragische Schuld# nennt, und die Vermessenheit die uns hiezu erkühnt ist die white (die “Verblendung”) der Griechen. - Wer dem [17] Leben durch die Erwählung einer Idee, eines Schicksals oder einer Leidenschaft, ihrer Grossziehung und ihrem Aufblühenlassen seinen Sinn schafft, sei es Liebe, Eifersucht, Ehrgeiz, Vaterlandsliebe, er hat damit alle Werte des stillen Lebens, tausend Quellen des bescheidenen Glückes verschüttet, seine Mitmenschen, den Zuschauern, vergällt. Er hat sie unölebenswert erscheinen lassen. So entstehen die historischen, die sozialen und die Leidenschaftstragödien. Aber über diesen stehen die allgemeinsten Lebenstragödien, die bedeutsamen Darstellung der Schwierigkeit überhaupt mit Bedeutung zu leben. Macbeth ist die Tragödie an der Shakespeare am klarsten darlegt dass das Heldenleben keine andere Wahl lässt als den ganzen Wert des Lebens auf eines zu stellen (hier: die Tat) und mit aller Kraft emporzuhalten, das unvermeidliche Ende aber ist, dass dieses Eine ganz aus dem Zusammenhang des Lebensgewebes gerissen aus Mangel an Beziehungen seinen Sinn verliert und ohne Wertmesser geblieben, plötzlich selbst blass, haltlos, und gespenstisch erscheint… Hamlet wieder versucht das Laben allseits bedeutend zu finden und es doch zu leben, wobei aus Mangel an Wertmesser am Ende Leben, Tod, Tränen, Irrsinn, vorgestellter Irrsinn und Schauspielerei unterschiedslos ineinander fliessen.

Kaum eine Tragödie ist etwas anderes als die technische Schwierigkeit des Lebens (durch sittliche Sanktion fixiert und verhängnisvoll gespaltet) die Folgen der Lebensform tragen zu müssen, ist uns sein Inhalt auch entzogen worden.

Ist das alles stadtbekannt? Oder sind es einfache, richtige Wahrheiten, gerade ob dieser Eigenschaft nicht genügend bekannter Art? Mir scheint dass viel von der Form gesprochen würde (auch von Lebensform) ohne eine so einfache Konstruktion wie es das Alltagsleben bietet, zugrunde genommen zu haben. Das “tragische” wird gewöhnlich so mystisch betont, als wäre es nicht die Haupt- und Staatsschwierigkeit des Lebens überhaupt! Das Sittliche fordert von jeden Individuum Wertschöpfung und schöpferische Verantwortung. Lebensgestaltung aber bedingt nicht nur Be-, sondern auch Ent-wertung; zum Inhalt erheben, heisst das andere zur Form erniedrigen. Da aher das Leben und der menschlichen Gesellschaft Lauf so gestaltet sind, dass das Leben wechselnd, die persönliche Lebensschöpfung aber nur eine einmalige ist, so wird in der Regel er Inhalt verflogen, verfälscht, verflüchtigt sein und es werden nur die Folgen der Form [18] vernichtend heruntersausen. - Es wird dem Menschen vor seiner Gottesähnlichkeit bange. Er passt nicht zum Schöpfer. Er ist es aber: malgré lui.

Das ist wohl das Rätsel der Tragödie.

Genug für heute!


Ihr

Polanyi, Kot.

Text Informations

Reference:
Date: 1914-1918?
KPA: 47/05